Friedrich Schneider, Symphony No. 16 & Overtures
Anhaltische Philharmonie Dessau, Markus L. Frank.
Musik-CD, Spielzeit ca. 67 Minuten.
Artikelnummer: FSO
Kategorie: Studentenlieder, SK
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Anhaltische Philharmonie Dessau, Markus L. Frank
„Das Prachtstück unter den studentischen Kompositionen des klassischen Repertoires“ nannte ich vor vielen Jahren in dieser Serie Brahms’ „Akademische Festouvertüre“ (SK 1/2004, S. 14) – wobei das
Wort „klassisch“ natürlich für die gesamte Konzertmusik stand; stilistisch ist sie zweifellos der Romantik zuzuordnen.
Das Werk entstand 1880 und brachte es auch außerhalb des korporationsstudentischen Publikums zu hoher Popularität; nur humorlose Musikprofessoren versagten ihm die gebührende Anerkennung.
Doch diese Komposition hat einen Vorläufer, thematisch wie formal. Dass Brahms ihn gekannt hat, ist eher zweifelhaft. Dass wir ihn kennen, verdanken wir der Tonträgerindustrie und ihrer Suche
nach immer neuen Titeln, die sie meist in der historischen Literatur findet.
Es handelt sich um ein Werk namens „Gaudeamus igitur“, das im Untertitel als „Festouvertüre über Motive academischer Lieder“ bezeichnet wird und im Werkkanon seines Schöpfers die Opuszahl 84
trägt. 1829 komponierte es der damalige Dessauer Hofkapellmeister Friedrich Schneider und brachte es im Jahr darauf, genau 50 Jahre vor Brahms, zur Uraufführung.
Die Parallelen sind mehrfach. Genau wie Brahms hat auch Schneider zuvor eine „Tragische Ouvertüre“ komponiert. Und gleich Brahms verwendet er in der academischen Ouvertüre vier Studentenlieder,
darunter – wie Brahms – neben dem Gaudeamus auch das Landesvaterlied. Und die Uraufführung steht in Zusammenhang mit der Verleihung der Ehrendoktorwürde der Universität Halle; genau wie das
Brahms gegenüber der Universität Breslau getan hat.
Johann Christian Friedrich Schneider (1786–1853) stammte aus Sachsen, genauer aus der Oberlausitz; seine Wiege stand in Altwaltersdorf nahe Zittau. Er war der älteste Sohn des örtlichen Lehrers
und Organisten – naheliegend, dass der ihm die musikalische Grundbildung beibrachte und frühen Unterricht an den wichtigsten Instrumenten gab. Dieses Fundament erwies sich als tragfähig: Bereits
auf dem Zittauer Gymnasium brillierte der Junge nicht nur als Sänger, sondern auch als Autor erster Kompositionen. Letztendlich sollten es mehr als 800 werden, von denen nur knappe hundert im
Druck erschienen und mit Opuszahlen versehen sind.
1805 nahm er in Leipzig die humanistischen Studien auf und brachte es schnell zu führenden Positionen im Musikleben der Stadt wie der Organistenstelle an der Thomaskirche, der Musikdirektion des
neuen Stadttheaters und der Leitung der Singakademie. Damals, 1820, entstand auch das Werk, das sein bedeutendstes bleiben sollte: das Oratorium „Das Weltgericht“ (op. 46; 1820; bei CPO
eingespielt, bei YouTube abrufbar) nach einem Text des Freischütz-Librettisten August Apel, dessen Uraufführung im Gewandhaus ihm überregionale Bedeutung sicherte und seine weitere Karriere
festigte. Dass er auch ein hervorragender Pianist war, bewies er schon 1811 mit seinem Auftritt als Solist der Leipziger Uraufführung von Beethovens fünftem Klavierkonzert.
Mit dieser Karriere bleibt vor allem die Stadt Dessau verbunden, wo sich Schneider 1820 niederließ und das Musikleben zu ungeahnten Höhen führte. Er gewann die Freundschaft des Dichters Wilhelm
Müller, des Autors der „Schönen Müllerin“ und zahlreicher Studentenlieder („Im Krug zum grünen Kranze“, „Mit der Fiedel auf dem Rücken“, „Wenn wir durch die Straßen ziehen“), mit dem zusammen er
1822 die „Dessauer Liedertafel“ gründete, daneben in eigener Initiative noch weitere Chöre. Er organisierte überregional Musikfeste, machte die Hofkapelle wieder zu einem vorzeigbaren Ensemble
und rief 1829 eine Musikschule ins Leben. Zu seinen Schülern gehörten Friedrich Wilhelm Stade (1817–1902), der spätere Universitätsmusikdirektor und Ehrendoktor von Jena, dem wir die Weise zu
„Auf den Bergen die Burgen“ verdanken, und der Hallenser Universitätsmusikdirektor und Ehrenbürger Robert Franz; seine Entdeckung war der Tenor Albert Niemann, Wagners erster Tannhäuser und
Siegmund. Zwischen 1820 und 1827 schrieb er auch mehrere musiktheoretische und didaktische Bücher. Als 1827 Wilhelm Müller starb, nur 33 Jahre alt, komponierte Schneider das Lied „Trocknet
eures Jammers Tränen“ auf einen Text von Johann Heinrich Voß.
Dessau sollte für Schneider Lebensmittelpunkt bleiben. Hier schrieb er den größten Teil seines umfangreichen Werkes und organisierte von hier aus seine zahlreichen auswärtigen Aktivitäten. Neben
Halle ernannte ihn auch die Leipziger Universität zum Ehrendoktor; auch wurde er dort Mitglied einer Freimaurer-loge. In Berlin verlieh ihm der König den zweithöchsten preußischen Verdienstorden,
den „Roten-Adler“, und in Kopenhagen erhielt er aus der Hand des Dänenkönigs den Danbrogorden. Die Liste seiner Ehrenmitgliedschaften reicht von New York (Philharmonic Society) über Paris
(Conservatoire) bis Salzburg (Mozarteum) und Wien (Gesellschaft der Musikfreunde).
Während seines letzten Vierteljahrhunderts zog er sich gerne nach Zerbst zurück und widmete sich dort der Astronomie und der Gartenkultur. Knappe 68 Jahre alt, verstarb er im November 1853 in
Dessau, wo er auf dem „Neuen Begräbnisplatz“ (heute „Historischer Friedhof“) seine bis heute erhaltene letzte Ruhestätte fand. Die Stadt ehrte ihn 1893 mit einem Denkmal des Dessauer Bildhauers
Hermann Schubert (1831–1917), das heute im Stadtpark steht; derselbe Künstler hat bereits fünf Jahre zuvor ein Schneider-Denkmal in dessen Geburtsort Waltersdorf errichtet. Dort erinnert an
seinem Geburtshaus auch eine Tafel an ihn.
Schneiders Werk umfasst 16 Oratorien und 7 Opern, darunter 1805 eine Vertonung von Goethes „Claudine von Villa Bella“, womit er auch zu den Komponisten des studentisch rezipierten Gedichtes „Mit
Mädeln sich vertragen“ gehört. Etwa 600 Lieder sind von ihm belegt. Auch sein chorisches (darunter Messen, Kantaten, Hymnen und Motetten), symphonisches und kammermusikalisches Schaffen geht in
die hunderte.
Die Verleihung seines hallischen Ehrendoktorates und die damit verbundene Uraufführung der Gaudeamus-Fest-ouvertüre fand im Rahmen des 5. Elb-musikfestes, einer von ihm initiierten
Konzertreihe an wechselnden Orten, am 5. Juni 1830 in Halle statt. Die im book-let zur Tonaufnahme zu lesende Bemerkung, dass die verwendeten Lieder außer dem Gaudeamus „heute kaum mehr
bekannt“ wären, belegt nur die diesbezügliche Unkenntnis des Autors. Tatsächlich zählen das Landesvaterlied („Alles schweige“) und das „Edite, bibite, collegiales“ (Refrain des „Ça ça
geschmauset“) zu den ungebrochen beliebten Kneip- und Kommersliedern; allein das „Brüder, lagert euch im Kreise“, eine seit 1794 nachweisbare Perle der Kommersbücher, tritt etwas in den
Hintergrund.
So hat der heute fast vergessene Schneider an der Grenze von Klassik und Romantik das spätere Meisterwerk von Brahms zwar nicht erreicht, aber in festlich-fröhlicher Manier bereits
vorweggenommen. Verlegt wurde es beim Halberstadter Verlag Brüggemann, wo neben der Orchesterfassung auch vom Komponisten selbst eingerichtete Klaviertranskriptionen zu zwei und zu vier Händen
erschienen. Ins Bewusstsein trat das Werk erst wieder, als es im Rahmen der 500-Jahr-Feier der Universität Halle-Wittenberg 2001 auf dem Programm eines Festkonzertes stand. Doch es dauerte noch
einmal fast zwanzig Jahre, bis es auf Tonträger gebannt und damit einem breiten Publikum zugänglich gemacht wurde.
aus: SK 4/2022